VORLÄUFIGES 1593, 1904
Sowohl die Familiengeschichte von Hans Jochen Sedelmeiers Vater Jakob, als auch die seiner Mutter Elsbeth (geb. Jänicke) reicht in die Zeit vor dem Dreissigjährigen Krieg zurück. Die Familie Sedelmeier, in der damals nahezu rein protestantischen „Freien Reichsstadt Lindau am Bodensee“ ansässig, betrieb sehr wahrscheinlich durchgängig das Handwerk der Gürtler und Gold- und Silberschmiede.
Sein Vater studierte mit siebzehn Jahren in München Architektur, um ca. 1883 nach Berlin zu gehen, und dort auf Bedingungen zu treffen, die es ihm eher leicht gemacht haben müssen, nicht nur schnell Fuß zu fassen, sondern innerhalb weniger Jahre auch beruflich und finanziell Anerkennung zu finden. Maßgebend hierfür waren sicher die Berlin-spezifischen Voraussetzungen der Gründerzeit. Die aufblühende Reichshauptstadt expandierte bauwütig und nährte gleichsam Spekulanten, Grundstücksmakler, Unternehmer und Architekten. Jakob Sedelmeier arbeitete zunächst als Angestellter eines Architekturbüros, dessen Atelierchef der Vertrauensbaumeister der Jüdischen Gemeinde Berlins war. Darüber hinaus entwarf die Firma fließbandartig 'herrschaftliche' Mietshäuser, Kauf-und Bürohäuser, sowie diverse Grunewald-Villen, und um 1890 wurde Jakob zum Teilhaber der Firma, die sich nun „Höniger & Sedelmeier“ nannte.
Endgültig stabilisierende Auswirkungen im Hinblick auf seine berufliche und gesellschaftliche Situation brachte Jakob am 19. Januar 1893 die Eheschließung mit Elsbeth Jänicke, der Tochter eines Berliner Bauunternehmers von einiger Geltung, welcher die Gründerjahre auch wiederholt sehr 'spekulativ' nutzte. Gemäß dem Stil der Zeit lebte er immer etwas über seine Verhältnisse, und war je nach Konjunkturlage teilweise sehr, teilweise weniger vermögend.
Nachdem Jakob Sedelmeier 1893 eine Villa in Berlin-Zehlendorf für seinen Schwiegervater gebaut hatte, und 1894 mit Walther Sedelmeier das erste Kind geboren wurde, zog man 1896 in Erwartung des zweiten Kindes Ursula in die freigewordene Sommerresidenz der Jänickes. Um die Jahrhundertwende begannen aber Planung und Bau eines eigenen Hauses, ebenfalls auf einem Zehlendorfer Grundstück der Jänickes. Die Villa in der Stubenrauchstr. 5 wurde 1903 fertiggestellt und galt, gemessen an ihrer Umgebung, als ein relativ bescheidenes Gebäude, das auf „allen Überfluß und Luxus verzichtete“. Daß sie dennoch Raum für eine letztlich fünfköpfige Familie und bis zu sieben Hausangestellte bot, läßt lediglich erahnen, mit welchen Maßstäben das Zehlendorfer Bürgertum allgemein operierte, und in welcher Umgebung dann am 19. Juli 1904 Hans Jochen Sedelmeier geboren wurde.
ZEHLENDORFER WURZELN 1904-1924
Dem Zehlendorfer Bürgertum kam neben standessichernden Interessen und tradierter Kaisertreue vor allem eine fortschrittstragende Rolle zu. Den wachsenden Bedarf an höherer Bildung spiegelt die Gründung diverser weiterbildender Schultypen ebenso wieder wie das allgemeine Interesse an musischen und kulturellen Belangen. Zum festen Bestandteil der häufig jüdischen Familien aus den Zehlendorfer Villenkolonien zählten das Ausrichten von Musikabenden und Dichterlesungen in den obligatorischen Salons, Ausstellungs- und Theaterbesuche in der näherrückenden Metropole, sowie die Pflege von Mode, Reisen, Garten und Natur. So gehörten auch in der Familie Sedelmeier die ausgedehnten Reisen an den Bodensee zu den angenehmen Selbstverständlichkeiten und führten mit dazu, daß sich Hans J. Sedelmeier bereits recht früh als eigentlicher Lindauer zu fühlen begann. Inwieweit jene Vorliebe für diese, an Farben und Formen relativ reichere Landschaft mit einem Ereignis zusammenhing, das um sein zweites Lebensjahr herum stattgefunden hat, ist schwer zu beurteilen; jedenfalls bekam Sedelmeier in diesem Alter aufgrund einer Entzündung seines rechten Auges eine Augenklappe verordnet, wobei sich herausstellte, daß er plötzlich gar nicht mehr sah, also von Geburt an auf dem linken Auge blind gewesen sein mußte. Er selbst hat diesem Handikap nie besondere Bedeutung beigemessen, aber es stellt sich natürlich die Frage, inwieweit es sich auf seine Sicht der Dinge und damit auch auf seine Malweise ausgewirkt hat.
Unzweifelhaft hatten der Mord von Sarajevo am 28.6.1914 und seine unmittelbaren Folgen bis zum Kriegseintritt Deutschlands eine Fülle verschiedenster Auswirkungen auf den bürgerlichen Alltag der Zehlendorfer. Doch während die Sätze Wilhelms II. „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche!“ und die siegessichere Gewissheit, diese 'gute und gerechte Sache' sei 'bis Weihnachten beendet', allgemeine Begeisterung auslösten, muß Sedelmeiers Vater Jakob eine bemerkenswert weitsichtige Sonderstellung eingenommen haben, die sich nach und nach auch auf seine Frau übertrug. Somit sind die Eindrücke seines Sohnes vom Beginn des Ersten Weltkriegs im Spannungsverhältnis zwischen der gedämpften väterlichen Haltung einerseits, und zunehmend euphorischem 'Säbelgerassel' andererseits zu sehen. Sein gerade zwanzigjähriger Bruder meldete sich freiwillig zum Militärdienst, ebenso wie zahlreiche Lehrer, Abiturienten, Freunde und Bekannte begeistert für „Kaiser und Vaterland“ zu kämpfen bereit waren. So geriet die Ausnahmesituation allmählich zum Normalzustand, an dessen Ende mit dem endgültigen Zusammenbruch der Deutschen Streitkräfte sich Sedelmeier als „als Vierzehnjähriger völlig überrascht“ erinnerte.
An das Produkt seines „ersten Verlangens, ein Erlebnis kompositionell zu gestalten“ erinnerte er sich als „eine Elegie auf den Untergang Deutschlands, eine große Kohlezeichnung, auf der im sturmgepeitschten Meer ein halbgeborstenes Schiff versank, während den Vordergrund, das Ufer, ein grinsend geigender Tod beherrschte, (...) alles in ein tristes Grau verwischt, mit nur wenigen kohleschwarzen Akzenten und einigen schwefelgelben Lichtstreifen am Horizont, (...) mit Pastellkreide grell aufgesetzt.“
AVANTGARDE UND POLITISCHER „SCHMOLLWINKEL“ 1925-1933
Seine enge Freundschaft zu dem angehenden Architekturstudenten Julius Posener und dessen Erzählungen von einem Baupraktikum, welches er gerade absolvierte, regten Sedelmeier zu neuen Überlegungen an. Und obwohl sein Vater aus der langjährigen eigenen Berufspraxis heraus einschränkte, sein Sohn solle sich „nicht einbilden, daß für gewöhnlich das Häuserbauen noch viel mit Kunst zu tun“ hätte, entschloß sich Sedelmeier zur Aufnahme eines Architekturstudiums. Entsprechend gestaltete sich die Enttäuschung, als dann zunächst fast ausschließlich mathematisch-technisches Konstruieren und weniger das architektonisch-gestalterische Moment gelehrt wurden, und so blieb dann das erste Architektur-Semester auch gleichzeitig Sedelmeiers letztes.
Im Sommersemester 1924 bewarb er sich zur Aufnahme in die Vereinigten Staatsschulen für freie und angewandte Kunst und muß die Aufnahmeprüfung insofern erfolgreich durchlaufen haben, als ihm der Leiter der Meisterklasse Portrait (und 'Alt-Secessionist') Prof. Emil Orlik nach wenigen Tagen antrug, unter Überspringen der Vor- und Fachklasse sein Meisterschüler zu werden.
„Doch um einzusehen, wie verkehrt herum ich mein Pferd aufzäumte, (...) verstrich doch lange Zeit. Ich mußte viel Lehrgeld zahlen dafür, daß ich nicht erst einmal einen gründlichen Fachunterricht zu absolvieren hatte, ehe ich mich sicher genug fühlte, mich aller ungebundenen Selbstständigkeit eines Meisterschülers hinzugeben, der im Grunde tun und treiben konnte was ihm in den Sinn kam. Anstatt geleitet und angeregt zu werden, stellte ich mir nun von Anfang an jedes Thema, jede Aufgabe nach eigenem Ermessen, und des Meisters Kritik und eventuelle Korrektur kamen überhaupt nur, wenn er darum gebeten wurde (...).”
Nachdem weder durch ein überdurchschnittliches Engagement für eine der Kommilitonen-„Cliquen“, noch durch ein ausgeprägtes Schüler-Lehrer-Verhältnis zu Emil Orlik eine besondere Bindung an die Hochschule existierte, führten verschiedene Ereignisse ab 1926 zu Sedelmeiers allmählichem Rückzug aus dieser Einrichtung: Zunächst befand sich Orlik wegen eigener Ausstellungsprojekte für mehrere Monate in den U.S.A.. Dieses überließ seine Studenten nun endgültig sich selbst und trug mit dazu bei, daß sich Sedelmeier bei seinen Eltern ein Atelier einrichtete um zu Hause arbeiten zu können. Doch hauptsächlich veranlaßte die Bekanntschaft mit Dr. Robert Richter und eine zunehmende Faszination für dessen Persönlichkeit eine schrittweise Neuorientierung, bis hin zur Anerkennung dieses Mannes als eigentlichen „Lehrmeister“. Hans J. Sedelmeier erinnerte sich an einen „so besonderen und eigenwilligen Maler, daß man ihn eigentlich gar keiner Kunstrichtung zuordnen konnte“. Aber gerade dadurch sei er von Richters Werken angezogen worden, habe er die undogmatische Freiheit einer Persönlichkeit gespürt: „Eines Weisen und Könners, Wissers und Deuters, der einem Schüler die ihm gemäßen Wege zu zeigen vermochte und dabei jedes Nachtreten in des Meisters Spuren zu verhindern wußte ...“. Unter Richters Einfluß erkannte Sedelmeier „den rein formalen Rhythmus als Fundament jeder malerischen Aussage und durch die treffenden und klärenden Bemerkungen des meisterlichen Freundes“ gingen ihm „die Augen dafür auf, was wesentlich und was gänzlich unwesentlich und deshalb überflüssig blieb“.
Vorerst aber überlagerten zwei andere Ereignisse einen Teil seines beruflichen Engagements. Zunächst starb am 4. Dezember 1929 sein Vater Jakob Sedelmeier an einer Lungenentzündung und hinterließ eine schmerzliche Lücke. Als „verständnisvoller Ratgeber“ hatte er die Berufswahl seines Sohnes unterstützt, ihn wiederholt bestärkt, sei es zu einem sechsmonatigen Studienaufenthalt in München, zu einer Reise durch die Provence oder zur Teilnahme an einigen Ausstellungen („der lehrreichen Distanz wegen“, wie er sagte). Und auch auf die Tatsache, daß sich Hans J. Sedelmeier am 9. Dezember 1929 verlobte, also gerade fünf Tage nach dem Tod des Vaters, hatte dieser ermunternd eingewirkt. Ursula Kaufmann, am 30. Juni 1910 als letztes von fünf Kindern in Berlin-Lichterfelde geboren und ebenfalls aus eher vermögenden Verhältnissen stammend, erregte Sedelmeiers Interesse bereits bevor er ihr auf einer Geburtstagsgesellschaft bei Julius Posener begegnete. Schon auf einem kleinen Gruppenfoto hatte sie ihn fasziniert, und war, wie er unumwunden zugab, „genau sein Frauentyp“. So heirateten die beiden am 28. Januar 1933 – nur zwei Tage vor der Machtergreifung durch die NSdAP.
„DIE BRAUNE UNZEIT“ 1933-1945
Um nur das wichtigste zu nennen, 'verlor' Sedelmeier seine maßgeblichen Freunde, denen es als Juden zum Glück gelang, rechtzeitig zu emigrieren, ferner geriet er in massive (und eigentlich bis zu seinem Tod reichende) Auseinandersetzungen mit seinem bis dahin bewunderten Bruder, welcher seine Karriere als Arzt durch eindeutige Bekenntnisse auf Nazi-Terrain fortsetzte. Aber hauptsächlich riß der Verlust von Wohnung, Vermögen und dem bisherigen Werk sowohl materielle als auch ideelle Lücken, die einem Maler seiner Generation sicher auch den Verlust von künstlerischer Identität bedeuten mussten.
Er wurde zunächst „GvH“ gemustert (Garnisionsverwendungsfähig Heimat), absolvierte eine Sanitäterausbildung in Berlin-Reinickendorf und meldete sich im November 1940 freiwillig zu einer Nachuntersuchung „GvFeld“; hauptsächlich um den „Kasernendrill“ gegen einen „sinnvollen Einsatz“ auf einem Lazarett-Zug einzutauschen (dem LZ 673, „Wunden zu heilen, die dieser Krieg, dieser vermaledeite Hitler schlägt (...), es wäre eine Aufgabe, dagegenanzuhelfen.“), und zusätzlich, weil er sich „gewisse Vorstellungen vom Hinundherreisen und die Weltkennenlernen“ machte. Zwar lautete Sedelmeiers eigenes Fazit „140.000 km der Finsternis“, eine Anspielung auf seinen verhaßten Vorgesetzten, einen Spieß namens Finster, aber zumindest ermöglichten ihm diese Einsätze das Sammeln sehr entscheidender Eindrücke aus der Sowjetunion, aus Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien, Griechenland, Holland, Belgien, Frankreich und Spanien.
ANKNÜPFEN. WORAN? 1945-1971
Die NS-Zeit machte es angesichts ihrer fundamentalen Auswirkungen nicht nur nötig, sondern auch relativ einfach, andere und mehr die private Lebensgestaltung betreffende Fragen zurückzudrängen, in deren Beantwortung zu stagnieren, in vagen, erträumten oder idealisierten Zukunftsvorstellungen zu verharren, denn sie begünstigte eine Haltung, welche den 'täglichen Faschismus' als 'einziges Problem' wahrnahm. Zugleich verlangte sie förmlich danach, persönliche Pläne nicht allzu konkret auf ihre eventuelle Brüchigkeit zu hinterfragen, eben um deren trostspendende Orientierungshilfe (ob vermeintlich oder tatsächlich) nicht zu verwirken. Zudem im August 1943 in Berlin 'ausgebombt' und mit wenigen Habseligkeiten 1945 nach Lindau übergesiedelt, konfrontierte die Nachkriegsrealität Sedelmeier mit sowohl äußeren als auch inneren Umständen, welche jenen Orientierungshilfen der Kriegsjahre nicht standhielten.
Und in der Tat hätte wahrscheinlich nahezu nichts funktioniert, wäre seine Frau Ursula nicht wie selbstverständlich bereit gewesen, sich um die Finanzierung der Familie zu kümmern, indem sie zunächst Kleider für Freunde und Bekannte nähte, (ab 1961) für ein Textilgeschäft arbeitete, und nicht zuletzt, indem sie maßgeblich an diversen Zuwendungen einiger Freunde (bis hin zu der Beschaffung von Ölfarbe und Pinseln) beteiligt war. Diese Freunde bemitleideten und unterstützten aber vor allem sie, und weniger den Maler, von dem der Eindruck des zur Bequemlichkeit Neigenden entstanden sein mag.
Die (unbeheizbare) Bodenkammer, die ihm nach dem Krieg zunächst als Atelier diente, wurde gleichermaßen zu einer Art Zufluchtsstätte, wenn er – gleich einem Büromenschen seine selbstgesetzten Arbeitszeiten (die um 8.00 Uhr morgens begannen und eine Stunde für die Mittagsruhe vorsahen) minutiös einhielt, und er ungehalten wurde, sobald eine Störung diesen Rhythmus zu gefährden drohte; wenn er in den Wintermonaten mit Handschuhen, Mütze, Schal und im Mantel malend, solange ausharrte, bis sozusagen die Eisblumen am Fenster den Lichteinfall beeinträchtigten, so zeugt dieses zunächst einmal (und vor allem) von der großen Ernsthaftigkeit seiner Berufsauffassung und davon, wie sinnstiftend für ihn dessen Ausübung war.
Im Dezember 1970 begab sich Sedelmeier zur Behandlung seiner Tbc unter die ärztliche Aufsicht eines Hannoveraner Krankenhauses. Dort starb er am 30. April 1971 an Lungenkrebs. Zuvor hatte er darum gebeten, ihm unbedingt mitzuteilen wenn ihm nicht mehr zu helfen sei, er müsse dringend noch einmal nach Lindau, wo er noch sehr viel zu erledigen habe ...
Im Herbst 1971 widmete man Hans J. Sedelmeier eine Gedächtnisausstellung im „Runge-Saal“ des Alten Lindauer Rathauses. Die einführenden Worte fand Julius Posener, darunter auch diese: „... wir sehen hier also einen Auschnitt aus dem Ausschnitt der übrig blieb. Zum Teil blieb er deswegen übrig, weil Hans Jochen seine Bilder nun nicht mehr übermalen kann ...“
Komprimierte Fassung von Teil 1 aus Andreas Jeck: „Hans J. Sedelmeier – Leben und Werk”, FH Bielefeld/HdK Berlin, 1989